WÖRTERWÖLFE
Historisches und Literarisches * Von Ralf C. Scherzinger
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Dancing into Battle

Allgemeines 0 comments Alkoholkonsum, Auspeitschen, Brüssel, Duke of Wellington, Napoleonische Kriege, Truppenverpflegung, Waterloo

Dancing into Battle

rc_scherzy

10. August 2019

In „Dancing Into Battle“ beschreibt Nick Foulkes meisterhaft die sozialen Hierarchien und Normen in den britischen Streitkräften zur Zeit der Napoleonischen Kriege und zeichnet in diesem Zusammenhang ein eindrucksvolles Porträt Wellingtons, das diesen einmal nicht als glänzenden Helden und Strategen lobt, sondern als einen von Standesdünkel und Vorurteilen geprägten Aristokraten in Uniform zeigt.

Leben wie Gott in Brüssel

Nach Napoleons Abdankung 1814 machten sich zahlreiche vornehme britische Familien in Richtung europäisches Festland auf den Weg. Dort betrugen die Lebenshaltungskosten für einen standesgemäßen Haushalt kaum die Hälfte vom dem, was man in London dafür aufzubringen hatte. 

Das bevorzugte Ziel der Auswanderer war Brüssel, wo sich schnell eine große britische Gemeinde bildete, die nicht zuletzt davon profitierte, dass britische Besatzungstruppen in dem neu geschaffenen Vereinigtem Königreich der Niederlande stationiert waren. Aus Sicht der Londoner Außenpolitik waren die Niederlande, insbesondere jene Teile des heutigen Belgiens, ein Pufferstaat zwischen England, der neuen Hegemonialmacht im Westen, und dem aufstrebenden Preußen.

Was ein Offizierspatent kostete

Das Militär wiederum bot vor allem den Söhnen der britischen Elite ein gutes Auskommen, wenn sie sich ein Offizierspatent (engl.: commission) kaufen konnten. Die Kosten dafür waren abhängig vom jeweiligen Regiment. Je stylischer die Uniform, desto teurer das Patent. Bei der gewöhnlichen Infanterie kostete der Einstieg als Ensign etwa 450 Pfund Sterling, das entspricht etwa 20.000 GBP in heutiger Währung und entsprach zu jeder Zeit – hier sind Foulkes Recherchen äußerst detailliert – in etwa der viereinhalbfachen Jahresrente einer alleinstehenden adligen Dame, die in London ein einfaches Appartement mit einer Dienerin bewohnte. 

Ein Haushalt wie der des Herzogs und der Herzogin von Richmond verschlang hingegen in London an die 4000 Pfund Sterling pro Jahr, was sich in Brüssel auf 2000 Pfund optimieren ließ. Die Duchess nannte das „einen ökonomischen Plan“.

Wellington, obwohl selbst ein durch und durch erfahrener Kommandeur, war selbst der Meinung, das gesellschaftliche Status seiner Stabsoffiziere und Adjutanten wichtiger war als deren fachliche Qualifikation. Er umgab sich bevorzugt mit jungen Männern aus guten Familien, die allesamt wesentlich jünger waren als er selbst. Die Rede war dann auch von keinem Stab, sondern von einer „family“.

Krieg als Risikosport

Das Kriegshandwerk selbst, so Foulkes, war aus der Sicht des Adels eine Art Risikosport. Man ritt in die Schlacht wie zu einer Fuchsjagd, wobei zu bedenken ist, dass die meisten jungen Männer zu jener Zeit gar nichts anderes kannten als andauernde Feldzüge seit dem Beginn der Amerikanischen und Französischen Revolutionen. 

Auch die „einfachen Leute“ schätzten den Unterhaltungswert gewalttätiger Spektakel wie etwa von Boxkämpfen. Und wenn ein Unteroffizier („non commissioned officer“) der britischen Armee eine Differenz mit seiner Ehefrau austrug, dann konnte diese schon mal einige Hiebe mit Säbel oder Degen abbekommen. In Anbetracht dieser Tatsache wird es verständlich, dass ein sich anbahnender militärischer Konflikt als gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges betrachtet wurde. Und was sich in Brüssel im Frühjahr des Jahres 1815 abspielte, mag in mancherlei Hinsicht – vor allem aus heutiger Sicht betrachtet – surreal erscheinen. Allerdings darf man Foulkes‘ Analysen glauben, dass Wellingtons betont zur Schau getragene Unbekümmertheit trotz besseren Wissens auch eine geschickte Taktik zur Stärkung der Kampfmoral seiner Männer war. In diesem Sinne bediente oder tolerierte er zumindest auch Klatschbasenvereinigungen wie „The Ladies in the Park“, deren Gerüchteküche „Fake News“, zu jener Zeit von ernsthaften Londoner Politikern „Brüsseler Geschichten“ genannt, am laufenden Band fabrizierte.

Wellingtons Eitelkeit

Bemerkenswert ist, dass sich Foulkes eine militärhistorische wie gesellschaftliche Rehabilitation der Leistung von Henry Paget, Lord Uxbridge, auf die Fahnen schreibt. Uxbridge war von höherer Stelle in London als Befehlshaber der britische Kavallerie unter Wellington eingesetzt wurden. Delikaterweise hatte er einige Jahre vorher eine glühende Affäre mit Wellingtons Schwägerin, die sich daraufhin scheiden ließ und Uxbridge heiratete. Darauf angesprochen meinte Wellington, der selbst Beziehungen zu verheirateten Frauen unterhielt, es sei eben typisch für Uxbridge, mit jedermann davonzulaufen. Er hoffe allerdings, Uxbridge würde der Versuchung widerstehen, ausgerechnet mit ihm, Wellington, davonzulaufen. 

Dieser Ausspruch, meint Foulkes, zeige zum einen, wie pikiert Wellington reagierte, wenn er wichtige Posten nicht mit Mitgliedern seiner „family“ besetzen konnte. Gleichzeitig zeige er die Verachtung des aus der Infanterie (billigeres Patent) aufgestiegenen Wellington für die finanzkräftigeren und gesellschaftliche schillernderen Kavallerieoffiziere. Ähnliche Vorurteile habe Wellington auch gegenüber Offizieren der Artillerie gehegt. Hier aus dem Grund, weil diese als einzige im britischen Heer bereits zu jener Zeit eine formelle waffentechnische Ausbildung durchliefen – aus Sicht von Wellington eine Verschwendung von Zeit und Geld. 

Höchststrafe: 1000 Peitschenhiebe

Ein weiterer Schwerpunkt in Foulkes‘ Buch ist die Schilderung des Lebens der einfachen Soldaten. 

In der Armee selbst war das Auspeitschen die übliche Disziplinarstrafe. In einem Befehl von 1807 hatte der König verfügt, dass selbst bei kapitalen Vergehen ein Höchstmaß von 1000 Peitschenhieben als Strafe gelten sollte. Öffentliche Exempel, bei denen der Delinquent 500 Peitschenhiebe verabreicht bekam, waren laut Foulkes bei den 1815 um Brüssel stationierten britischen Truppen keine Seltenheit. Er bringt den Fall eines „drummer boys“, eines Teenagers von 15 oder 16 Jahren, der wegen Trunkenheit im Dienst gemaßregelt wurde in einer Weise, dass nach einigen Dutzend Hieben mit der Peitsche die Knochen seines Schulterblatts sichtbar waren. Und weil die befehshabenden Offiziere der Meinung waren, der vollstreckende Feldwebel schlage nicht hart genug zu, erhielt auch dieser noch eine Strafe von 250 Hieben. 

Ungehemmt saufen können

Ebenfalls überraschend erscheint dem heutigen Leser der hohe gesellschaftliche Stellenwert des Alkoholkonsums. Trank ein Gentleman sechs Flaschen Portwein zu Abend galt das als Zeichen größtmöglicher körperlicher wie geistiger Gesundheit und sexueller Potenz. 

Dank der Spottpreise für Gin („genever“ oder „holland“) lebten auch die gemeinen Soldaten in den Wochen und Monaten vor der Schlacht von Waterloo wie im Paradies. Die durchschnittliche Tagesration bestand aus einem Pfund Fleisch, einem Pfund Brot sowie ein bis sechs Pints (ein guter halber Liter) Gin.

Wellington war der Meinung, dass die meisten seiner Soldaten ohnehin nur dienten, um ungehemmt saufen zu können, was einmal mehr seinen Standesdünkel zeigte, andererseits keineswegs frei erfunden war.

Vom Ball zur Schlacht

Dass Wellington die Nachricht vom Vormarsch Napoleons auf dem Ball der Herzogin von Richmond erhielt, war reiner Zufall. An einem anderen Tag wäre es eben ein anderer Ball gewesen. Diese Vergnügungen fanden beinahe täglich in Brüssel statt. 

Den Verlauf der Schlachten von Quatre Bras und Waterloo handelt Foulkes im Zeitraffer ab und verweilt nur länger, wo es sich lohnt, das Schicksal eines einzelnen Protagonisten aus der Brüsseler Gesellschaft zu verfolgen. Als Beispiel mag James, Lord Hay, gelten, ein auffallend gut gekleideter und charmanter junger Mann, dem die Armee wie so vielen anderen das einzige mögliche Auskommen bot. Hay war nicht nur ein hervorragender Tänzer, sondern auch ein großartiger Reiter. Und Pferderennen waren neben den Bällen eine weitere beliebte Art von Vergnügen.

Obwohl erst achtzehn Jahre alt und aus verarmten Adel wurde Hay von vielen bewundert. Zu seinen Fans zählte die Tochter der Herzogin von Richmond, was in Sergej Bondartschuks monumentalem Waterloo-Film von 1971 korrekt dargestellt ist. Allerdings fiel Hay – seiner eigenen Vorhersage gemäß – schon beim ersten Treffen mit den Franzosen in Quatre Bras, weil – und das war für mich neu – die auffälligen Verzierungen seiner Uniform ihn zu einem bevorzugten Ziel der Schützen der französischen Avantgarde machten. Wahrscheinlich hielten sie ihn aufgrund der Uniform für einen besonders ranghohen Offizier. In Bondartschuks Film stirbt er als Kommandeur eines Karrees beim Angriff der französischen Kavallerie unter Marschall Ney. 

Brustpanzer als Kochgeschirr

Die Brustpanzer der französischen Kürassiere fanden nach der Schlacht vielfältige Verwendung auf britisch-alliierter Seite, unter anderem als Sitzgelegenheiten und als Kochgeschirr. Im letzteren Fall träufelte freilich immer ein wenig Flüssigkeit durch die Einschusslöcher. 

Foulkes beschreibt detailliert die Nachwirkungen der Schlacht. Ehefrauen suchen ihre Männer. Gaffer stecken ihre neugierigen Nasen in den übel riechenden Wind. Die Masse der Verwundeten muss tagelang ausharren, bis sie geborgen werden.

Von Waterloo zur Krim

Nicht weniger folgenschwer sind die Langzeitwirkungen. Hier stellt Foulkes fest, wie der Sieg von Waterloo die Weltsicht des britischen Adels und des Militärs bestätigte. Der Hochmut, den man schon vor der Schlacht den Vorfahren der heutigen Belgier entgegenbrachte, zementierte sich und wurde zum Markenzeichen britischer Eroberer überall auf der Welt. 

Eifrig baute das aufstrebende Empire einen Mythos, in dessen Zentrum die Person Wellingtons stand. Zweimal wurde der Herzog mit dem Amt des Premierministers betraut. Beide Male endete es in einem Desaster. Noch schlimmer kam es für die britische Armee, die unter dem Befehl von Fitzroy Somerset, Lord Raglan, der als Wellingtons Adjutant bei Waterloo einen Arm verloren hatte, 1853 in den Krimkrieg zog. Bedenkenlos wurde die Waterloo-Kampagne dort kopiert, was zu schwerwiegenden taktischen Fehlern führte und Somerset den Ruf und schließlich auch das Leben kostete.

Fazit

Zu Foulkes Buch ist abschließend nur eines zu sagen: unbedingte Leseempfehlung für alle, die sich mit den Napoleonischen Kriegen oder der Geschichte Großbritanniens befassen. Eine deutsche Übersetzung gibt es allerdings nicht.

Warum dieser Blog

Allgemeines 0 comments Facebook, Soziale Netze

Warum dieser Blog

rc_scherzy

29. November 2015

In den sozialen Netzwerken wie Facebook werden oft Links zu umfangreicheren Artikeln und auch Sprüche gepostet, die zwar gut klingen, aber einer eingehenden Prüfung nicht standhalten. Der Like-Button und die Kommentarfunktion sind für mich ungeeignet, darauf einzugehen. Ich habe zu viele Ideen. Das Schreiben hilft mir, Gedanken zu ordnen und Schlussfolgerungen zu finden. Natürlich auch Eindrücke festhalten, Gefühle. Ob daraus irgendwann ein neues Buch wird, kann ich nicht sagen.

Es liegt außerdem die eine oder andere kürzere Arbeit in meinen Schubladen, die dort nicht verstauben muss. Das Gleiche gilt für meinen Fundus an Fotos aus allen möglichen Ecken der Welt. Text und Bilder zu verbinden ist eine ideale Kombination für kreative Ideen.

Nicht zuletzt stoße ich immer wieder auf Publikationen, vor allem Sachbücher, aus dem englischsprachigen Raum, die es nicht in deutscher Übersetzung gibt. Ich möchte die Inhalte und meine Gedanken darüber hier vorstellen. Vielleicht wird dann doch ein Verlag/Übersetzer darauf aufmerksam.

Über Rassen und Nationen

Nachdenkliches, Rezensiertes 0 comments Brasilien, Rassismus, Sklaverei, Südafrika, USA

Über Rassen und Nationen

rc_scherzy

13. Oktober 2018

Wer wissen will, warum die Frage nach der Bedeutung der ethnischen Herkunft vieler Bürger in den USA, Südafrika und Brasilien trotz ähnlicher historischer Voraussetzungen völlig unterschiedliche Perspektiven eröffnet, sollte Marx lesen.  Nein, nicht Karl, Anthony heißt dieser hier. Sein Buch: „Making Race and Nation: A Comparison of South Africa, the United States and Brazil“

Die drei genannten Staaten haben aus der Geschichte gemeinsam, dass in der Vergangenheit Afrikaner als Sklaven europäischer Landbesitzer eine Schlüsselrolle in der Ökonomie zukam.

Doch im Unterschied zu Südafrika und den USA gab es in Brasilien zu keiner Zeit Rassengesetze. Den Grund dafür sieht Marx in den inner-weißen Konflikten, die die USA (Amerikanischer Bürgerkrieg) und Südafrika (Burenkrieg) erschütterten. Die Niederlage der auf Agrarwirtschaften gestützten politischen Mächte, die gezwungen wurden, ihre Interessen denen einer eher liberal eingestellten Industrie unterzuordnen, erforderte eine Neuordnung des Staates. Indem man auf die offensichtlichen optischen Unterschiede zwischen den Menschen fokussierte, gelang es, neue Loyalitäten zu erschaffen, einen gemeinsamen Nenner auf den sich die verfeindeten weißen Bevölkerungsgruppen einigen konnten. 

Anschließend trat ein Prozess in Kraft, bei dem der unterlegenen Kriegspartei Zugeständnisse gemacht wurden. Und jeder Akt der Solidarität innerhalb einer Gruppe werde begleitet durch einen verstärkten Hass gegen außerhalb dieser Gruppe stehende Menschen, erklärt Marx mit Hinweis auf Arbeiten des im Juli diesen Jahres verstorbenen amerikanischen Soziologen Arthur Stinchcombe, der an der Uni Berkeley gelehrt hatte.

Brasilien hingegen war eine weitgehend homogene Kolonie, deren Wirtschaft landesweit auf Sklavenarbeit beruhte. Zu keiner Zeit wurde die Vormachtstellung der portugiesischen Kolonialmacht in Frage gestellt. Und so modernisierte und transformierte sich das Land auf friedliche Weise selbst. Aus der Kolonie wurde ein Kaiserreich, dann eine Republik. Aus Sklaven wurden freie Bürger. 

Eine Parallele zu den Unterschieden USA+Südafrika vs. Brasilien sieht Marx übrigens mit Blick auf die Gründung der Nationalstaaten Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Während Frankreich bereits ein geeinigter Staat gewesen sei, habe die Einheit Deutschlands erst erkämpft werden müssen. Die im Krieg von 1866 unterlegenen Mächte, allen voran Bayern, wurden über das Instrument einer exklusiven deutschen Staatsbürgerschaft eingebunden, die sich an der geografischen Herkunft der Bürger festmachte.

Viele der heute aktuellen Debatten erscheinen mir nach der Lektüre von Marx‘ Buch in einem anderen, bereichernden Licht. Gerade wenn es um Fragen wie Grenzen, Nationen, Heimat und Herkunft geht.

Bittere Erbschaft

Nachdenkliches, Rezensiertes 0 comments Aro, Benin, Fulbe, Gambia, Kamerun, Sklaverei, Tchamba

Bittere Erbschaft

rc_scherzy

11. März 2018

Es ist eines der schockierendsten Bücher, die ich seit Jahren gelesen habe. Und ich lese viele historische Berichte, in denen es von grausamen Vorkommnissen wimmelt. Oft dachte ich nach so einer Lektüre, das ist alles schon so lange her, heute sind wir längst weiter. Diese Illusion hat mir „The Bitter Legacy“ gründlich genommen.

Die besondere Wirkung des Buches erklärt sich dabei durch die Tatsache, dass die meisten Beiträge darin von afrikanischen Forschern stammen, die einen viel tieferen Einblick in die sozialen Probleme der Menschen in ihren Ländern bekommen als Fremde von außerhalb.

Die wichtigste Ursache der im Buch beschriebenen Probleme ist schnell benannt: Die meisten Menschen, die über Jahrhunderte in Afrika versklavt wurden, blieben auf dem Kontinent. In der Folge bildeten sich soziale Strukturen, die – auf für mich erschreckende Weise – bis heute Bestand haben.

In vielen deutschsprachigen Commons-Beiträgen wie Wikipedia wird oft der Eindruck vermittelt, die Sklaverei in Afrika selbst sei nicht so schlimm gewesen wie die in den Südstaaten der USA. Dieses Bild ändert sich schlagartig, sobald ehemalige Sklaven und ihre Nachfahren zu Wort kommen.

Damian U. Opata, der an der University of Nigeria lehrt, untersucht, wie sich die Erfahrung der Sklaverei bis heute in der Sprache der Igbo manifestiert. Die von Opata analysierten Redensarten und Sprichwörter beschäftigen sich mit der Zuschreibung von Eigenschaften auf Sklaven wie Sklavenhalter. Daneben gibt es konkrete Empfehlungen für die Halter in Bezug auf den Umgang mit Sklaven und Sprichwörter, die auf die dauerhafte Abwertung der Sklavenkaste abzielen.

Beispiel: „Selbst wer zum Priester geweiht wird, bleibt immer noch Sklave und wird im Jenseits wieder anderen dienen müssen.“ Oder: „Die häßliche Tochter eines freien Mannes sollte stets froh sein, dass sie nicht als Sklavin geboren ist.“

Zu den praktischen Ratschlägen gehört es, Sklaven möglichst diskret zu verkaufen, denn „jeder Verkauf ist eine weitere erniedrigende Erfahrung auf dem Weg zu noch größerer Abhängigkeit, die zu Gegenwehr führen könnte.“ Der Sklavenhändler oder -halter wird hier gewarnt, auf der Hut zu sein. Und obwohl sich die Zeiten geändert hätte, schreibt Opata, ist es bei den Igbo nach wie vor üblich, die Nachkommen der Unterklasse wie ihre Vorfahren als „ndi ohu/ndi oru“ (wörtlich: Sklaven) zu bezeichnen. Opata: „Es gibt keine Vorsilben wie ex- oder post- in diesem Zusammenhang.“

Uwo Nwokeji, selbst ein Aro und damit Angehöriger eines Volkes, das in der Bucht von Biafara zu den führenden Sklavenwirtschaften gehörte und im großen Umfang auch Sklaven an die Europäer verkaufte, bemüht sich in zahlreichen persönlichen Interviews, Einblick in das Denken seiner Landsleute zu erlangen. Die meisten Gefangenen machten die Aro in Razzienkriegen, die sie gegen das Volk der Igbo führten. Nwokeji stellt deshalb vier Interviews mit Nachfahren ehemaliger Sklaven aus Arondizuogu, dem wichtigsten Zentrum des Aro-Sklavenhandels im Igboland, in den Mittelpunkt seiner Ausführungen.

Interessant ist dabei, dass der Nachkomme eines bei den Aro versklavten Igbo dessen nach Übersee verkaufte Leidensgenossen auf einer noch tieferen sozialen Stufe sieht und sie als „black negroes“ bezeichnet.

Wie dicht die Vergangenheit an unserer Gegenwart heranreicht, macht folgende Aussage deutlich: „Wenn eine Familie sieben Kinder hat, aber nichts zu essen, dann wird eines davon verkauft, damit die anderen satt werden. Mein Onkel wurde auf diese Art verkauft und pflegte später zu sagen: ‚So haben sie mich also behandelt – wie ein Huhn!‘“

Neben Kriegsgefangenschaft und dem Gang in die Sklaverei, um nicht verhungern zu müssen, begünstigte auch der mit vielen Naturreligionen einhergehende Aberglauben die Akzeptanz der Sklaverei als gesellschaftlich notwendige Institution. Bei den Aro, Igbo und vielen anderen Völkern Westafrikas galten Kinder als verhext und von bösen Geistern besessen, wenn ihre Geburt oder Entwicklung anders verlief als normal. Dazu gehörten Zwillinge, Kinder, die mit den Füßen zuerst geboren wurden und solche, bei denen die oberen Schneidezähne vor den unteren durchbrachen.

„Solche Kinder“, erklärt der Parlamentarier Orou Sé Guéné aus Borgu, Benin, seinem Gesprächspartner Eric Komlavi Hahonou, „wurden vor dem Auftauchen der Fulbe ‚physisch eleminiert‘, weil sie gefährlich für die Gemeinschaft waren.“

Die Fulbe, islamisierte, halb-sesshafte Hirten, fanden eine Alternative zum beiderseitigen Nutzen. Gab man ihnen die angeblich verhexten Kinder, damit sie das Vieh der Fulbe hüteten und auf andere Weise für sie arbeiteten, dann würden die bösen Geister mit der Zeit vom Kind auf das Vieh übergehen und die Gefahr gebannt.

Die Kaste der so entstandenen Sklaven nennt man heute Gando. Auch Orou Sé Guéné ist ein Gando. Im Jahr 2003 wurde er zum Bürgermeister der Stadt Kalalé gewählt. Den etablierten Parteien der Bariba und Boo, jener Ethnien, die lange als Oberklasse der Region galten (in Benin formieren sich politische Parteien aufgrund ethnischer Gemeinsamkeiten), war Guéné aufgrund seiner Herkunft ein Dorn im Auge. Mit Erpressung, der Androhung von Voodoo-Zauber und brachialer Polizeigewalt gegen seine Wähler drängten sie ihn nach einiger Zeit aus dem Amt. Die Aufmerksamkeit, die sie damit weckten, reichte allerdings bis in den Süden des Landes. Dort begann sich die Partei der Fon für Guéné zu interessieren. Zwar besaßen die Fon in früheren Zeiten das Monopol für den Sklavenhandel an der Küste, aber schwerwiegender als der soziale Status eines Gando wog für die Fon ihre jahrhundertealte Rivalität mit der Oberklasse des Nordens, den Bariba und Boo. Und so gewann Orou Sé Guéné die Wahlen im Norden und wurde Abgeordneter des Parlaments von Benin.

Auch in anderen Ländern ist die politische Rolle ehemaliger Sklaven und ihre Teilhabe an allen Belangen des gesellschaftlichen Alltags immer noch ein heikles Thema. So kam es im Jahre 2002 in Gambia zu einer öffentliche Debatte, als bekannt wurde, dass in der Stadt Kerewan die Nachkommen ehemaliger Sklaven noch immer nicht neben anderen, als „frei geborenen“ Mitgliedern muslimischer Gemeinden bestattet werden dürfen. Für die „Sklaven“ ist ein spezieller Teil des Friedhofs reserviert. Und nicht nur das. Als Journalisten tiefer bohrten, fanden sie die Geschichte eines reichen Geschäftsmannes, dem aufgrund seiner Herkunft ein Platz in den vorderen Reihen in der Moschee beim Freitagsgebet verwehrt wurde. Armen Hausangestellten wurde die Möglichkeit einer Pilgerreise nach Mekka verweigert. Sie waren und blieben damit „keine richtigen Muslime“.

Es sollte dazu erwähnt werden, dass die Sklaverei in Gambia erst 1930 gesetzlich verboten wurde und anschließend etliche Jahrzehnte – bis heute? – im Verborgenen existierte.

Während einige geistige Würdenträger die Gebräuche in Kerewan in einem Zeitungsartikel, der im Buch abgedruckt ist, als un-islamisch brandmarkten, verteidigten andere Imame das herrschende System mit Argumenten wie: Sklaverei hätte es in der Region schon gegeben, bevor der Islam kam. Und solange man ausschließlich Menschen versklave, die nicht bereit seien, die Lehren des Koran anzunehmen, wäre das auch nicht verwerflich.

Wie uns die Nachrichtenlage immer wieder vor Augen führt, hat der soziale Sprengstoff, der in Gambia und anderen Ländern der Region darauf wartet zu explodieren, ein beträchtliches Zerstörungspotential. Dem ist auch nicht abzuhelfen mit Geld aus den Industrieländern oder Entwicklungshilfe, weil die Wurzeln dieser Konflikte afrikanische Probleme sind, die mit dem europäischen Kolonialismus nichts zu tun haben. Im Gegenteil beschleunigten gerade die Eroberungen der Europäer am Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts die Emanzipation der afrikanischen Sklavenkaste, die in den Kolonialarmeen und -verwaltungen Möglichkeiten für den sozialen Aufstieg fand. Das war zwar keinesfalls das Ziel der europäischen Interventionen, aber ein interessanter Nebeneffekt im Zuge des militärischen Ringens um die Frage, ob die Ressourcen des Kontinents auf afrikanische oder europäische Art ausgebeutet werden sollten.

In Mauretanien beglaubigen heute noch immer – das Buch zitiert zwei Beispiele aus den 1990er Jahren – islamische Rechtsgelehrte Freilassungsurkunden für gewesene Sklaven, während der Staat, der 1980 die Sklaverei offiziell verbot, es nicht für nötig hält, dieses Verbot mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen.

Wo Schatten ist, gibt es aber auch Licht. In den Küstenregionen Benins und Togos gibt es entlang der ehemaligen „Sklavenküste“ eine Erinnerungskultur, die nicht staatlich verordnet, sondern spirituell getragen ist. Aus dem Voodoo-Glauben heraus, die Geister Verstorbener könnten die Nachfahren ihrer Peiniger heimsuchen, entstand der (Mami) Tchamba Kult, der ausschließlich von Familien praktiziert wird, die in der Vergangenheit Sklaven besaßen oder mit ihnen handelten. Magische Armbänder (die man auf Wochenmärkten kaufen kann) erinnern, wenn sie in Haus oder Garten zufällig gefunden werden, an die historische Verantwortung ihrer Finder, der sie mit Andachten und Zeremonien im Tchamba-Schrein gerecht werden. (Sie dazu den sehr guten Artikel auf Wikipedia.)

Noch wichtiger ist wahrscheinlich die Geste eines Stammesfürsten in Kamerun, der zum Gedenken an einen Mann namens Tabula eine Stiftung und Gedenkstätte ins Leben rief.

Tabula war als kleiner Junge vom Großvater des Stifters zu einer Zeit verkauft worden, als Kamerun unter deutscher Verwaltung stand, etwa um 1907. Die deutsche Kolonialverwaltung hatte an diesem Geschäft keinerlei Anteil, sie war zu dieser Zeit im Landesinnern noch gar nicht präsent.

Über Umwege (jeder Verkauf eine weitere Statusdegradation) gelangte Tabula auf die Insel Fernando Po (heute: Bioko), wo er auf den Kakao-Plantagen spanischer Unternehmer für einen Hungerlohn arbeitet, dem ihm seine afrikanischen „Vermittler“ am Ende des Monats wegnahmen.

1968 erlangte Äquatorial-Guinea einschließlich Bioko die Unabhängigkeit. Die spanischen Plantagenbesitzer wurden von neuen Machthaber Francisco Macías Nguema, der sich formell zum Marxismus bekannte, ausgewiesen, ihre Arbeitssklaven für frei erklärt. Anschließend verhungerten die meisten der ehemaligen Sklaven, weil sie für Nguemas politischen Zwecke bedeutungslos waren und Kakaobohnen keine Menschen ernähren können.

Mit Hilfe einer Frau, die an ihm Gefallen fand, schaffte es Tabula zu überleben. Durch die Jahre der Zwangsarbeit und die damit verbundene Deformation seiner sexuellen Körperfunktionen war diese Beziehung allerdings zum Scheitern verurteilt.

1979 wurde Francisco Macías Nguema infolge eines Staatsstreichs durch seinen eigenen Neffen entmachtet. Der neue Amtsinhaber warb um Investoren aus den Nachbarländern und so kam der Geschäftsmann Jean Tawembé aus Kamerun nach Bioko, um sich zu informieren. Als er am Abend eines langen Arbeitstages in der „Tahiti“-Bar auf einen Drink saß, hörte er zu seinem großen Erstaunen einen alten Mann in der Sprache seiner Heimatregion ein Bier bestellen und anschließend erklären, eines Tages, das empfinde er als seine Bestimmung, würde er in das Dorf seiner Kindheit zurückkehren.

Tawembé, ein Patriot im besten Sinne des Wortes, zögerte keinen Augenblick und nahm Tabula, den alten Mann, mit zurück nach Kamerun. Seine Ankunft am 25. Juli 1981 und seine Geschichte wirkten dort wie ein politisches Erdbeben. Chief Tela Nembot Gilbert musste nach einigen Recherchen eingestehen, dass es sein Großvater gewesen war, der Tabula, dessen damals vierjährigen Bruder, der niemals wiederkehrte, und viele andere Namenlose an fremde Männer, Afrikaner, verkauft hatte. Zum Zeichen der Versöhnung erhob er Tabula in den Adelsstand und verlieh ihm den Titel „Chief of the Slaves“.

Tabula starb am 22. Mai 1982 im Ort seiner Geburt. Stellvertretend für alle seine Leidensgenossen wurde er von der Gemeinde zu Grabe getragen. Mit diesem Akt und der Gründung der „Tabula Foundation“ sowie der „Association Esclavage-Mémoire et Abolition“ verbindet sich für die Bevölkerung der Region die Hoffnung, Tabulas Geist möge in Zukunft als Vermittler zwischen Gott und den Menschen auf Erden wirken.

Die Geschichte Tabulas wurde dokumentiert von Dr. Zacharie Saha, dem Leiter der Historischen Fakultät der Universität von Dschang, Kamerun.

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Info zum Buch:

“The Bitter Legacy. African Slavery Past and Present.“ Herausgegegben von Alice Bellagamba, Sandra E. Greene und Martin A. Klein. Erschienen bei Markus Wiener Publishers, Princeton, 2013. Preis Paperback: 24,96 Euro.

Historische Vergewisserung: Gedanken zu Colson Whiteheads „Underground Railroad“

Nachdenkliches 0 comments Francisco Félix de Sousa, Sklaverei, Underground Railroad

Historische Vergewisserung: Gedanken zu Colson Whiteheads „Underground Railroad“

rc_scherzy

7. Februar 2018

Seit Wochen kämpfe ich mit mir selbst. Es geht um die Frage, ob ich diesen Roman, den zahlreiche Rezensenten vor mir zum Teil in den Himmel gelobt haben, überhaupt lesen will.

Obwohl ich mir die digitale Leseprobe der e-Book-Ausgabe heruntergeladen und darin geschmökert habe, werde ich mit dem Stoff nicht warm. Mein Problem ist, ich keine zu viele historische Fakten, auf die das Buch referenziert oder sagen wir besser: zu referenzieren vorgibt. Denn worauf ich bei der Lektüre stoße, das wirkt auf mich primär wie eine Sammlung geschickt platzierter Klischees, ein Köder, dem durchschnittlich informierte Leser*innen auf dem Leim gehen sollen, was zumindest im Falle der meisten Rezensenten hervorragend gelingt.

Klar, was sollen historische Fakten, wo doch der Autor in der Manier des Magritteschen Surrealismus eine echte Dampfeisenbahn durch seine Geschichte rasen lässt? Sagt er damit nicht klar und deutlich: Das hier ist Fiktion, bitte nicht auf den historischen Wahrheitsgehalt prüfen!?

Grundsätzlich neige ich dazu, es genauso zu betrachten. Das sind die Momente, in denen ich dazu tendiere, das Buch zu lesen, um herauszufinden, was die Fantasie des Autors, locker historische Anhaltspunkte touchierend, ins Blaue hinein fabuliert. Und Whitehead, daran besteht schon nach der ersten beiden Seiten seines Romans kein Zweifel, ist ein erstklassiger Storyteller, einer, der es versteht, seine Leserschaft in die Geschichte hinein zu saugen.

Darf er darüber hinaus lax mit historischen Fakten in einer Geschichte umgehen, die durch ihr Genre und auch durch den vom Autor entworfenen Gang der Handlung eindeutig als FIKTION gekennzeichnet ist?

Ja, auch das. Denn es ist nicht zuletzt die Aufgabe eines guten Romans, Sachverhalte bewußt kontrastreich  darzustellen, um Probleme und Missstände in der Gesellschaft sichtbar zu machen..

So gesehen habe ich mit Whiteheads Werk gar kein Problem – eher schon mit den Rezensenten, die sich für ihre Analysen weiterer Klischees bedienen. Auf die Spitze treibt es dabei Burkhardt Müller, der in der ZEIT schreibt: „Zu einem Zeitpunkt, wo in Amerika die alten weißen Männer wieder obenauf sind und mit genussvoller Häme die emanzipatorischen Anstrengungen von Jahrzehnten zunichte machen, fühlen ihre Gegner die Notwendigkeit, sich neu zu formieren, wozu an zentraler Stelle die historische Vergewisserung gehört.“

Müller nimmt den Roman hier offenbar als Faktensammlung. Das kann passieren. Bedenklich ist, was er sich weiter zusammenspinnt: „Die titelgebende Underground Railroad, Untergrund-Eisenbahn, das war die Bezeichnung für das weitverzweigte Netzwerk, das weiße Abolitionisten im ganzen Land aufgebaut hatten, um Sklaven zur Flucht in den Norden zu verhelfen.“

In dem Bestreben, moderne Erscheinungsformen des Rassismus anzuprangern, käut der ZEIT-Rezensent jetzt selbst eine Legende wieder, die sich vor mehr als einhundert Jahren mehr oder weniger alte weiße Männer zurechtgeschustert haben. Die Basis dafür ist Wilbur Henry Sieberts Buch „The Underground Railroad from Slavery to Freedom“. Mit Ausnahme von Frederick Douglas und Harriet Tubman fokussieren Sieberts Recherche und Erzählungen ausschließlich auf den Erinnerungen weißer Aktivisten. So räumt er etwa John Rankin aus Ripley, Ohio, breiten Raum ein, erwähnt aber John P. Parker und William Q. Atwood, die zur gleichen Zeit im gleichen Ort wirkten, mit keiner Silbe. Parker und Atwood, man mag es bereits erahnen, waren freie Farbige.

Siebert malte auch Karten, in denen er Orte, von denen er hörte, mit Linien verband. So entstand das Bild eines Netzwerks, der „Railroad“, das aber erst – mit Ausnahme zweier Schiffsrouten – nördlich der Mason-Dixon-Linie beginnt. Historische Vergewisserung ist also durchaus angebracht und führt oft zu überraschenden Erkenntnissen.

So schreiben die Historiker John Hope Franklin und Loren Schweninger in ihrem Buch „Runaway Slaves: Rebels on the Plantation“, dass in der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg jährlich fünfzigtausend Sklaven nicht in den Norden sondern in verschiedene Gebiete des Südens flohen. Sie führen allerdings auch zahlreiche Beispiele für Gewaltakte an, die – nicht nur zwischen Sklaven und Sklavenhaltern – auch ein wesentliches Element in Whiteheads Geschichte sind. In diesem Punkt erfaßt er einen wesentlichen Aspekt, auch wenn viele von ihm entworfene Szenen einem historischen Lackmustest nicht standhalten.

So hielten sich Frauen und Mädchen auf Sklavenschiffen während der Atlantikpassage tagsüber an Deck auf, ohne „von Kopf bis Fuß in Fesseln gelegt“ zu sein. Es bestand also keine Notwendigkeit, dass „einige der abgebrühteren Maate“, das waren die – je nach Schiffstyp – zwei bis vier dem Kapitän direkt unterstellten Offiziere, irgendein Mädchen „aus dem Laderaum“ zerrten.

Und „Teil eines Großeinkaufs, achtundachtzig Menschenseelen für sechzig Kisten Rum und Schießpulver“ dürfte Coras Großmutter Ajarry ebenfalls nicht gewesen sein, wenn man in einer Studie des nigerianischen Historikers Ugo Nwokeji liest, dass die durchschnittliche Kaufrate in Ouidah für die Jahre 1751 bis 1800 bei 3,2 Personen pro Schiff pro Tag lag.

Diese Schiffe waren wochen- manchmal monatelang an der westafrikanischen Küste unterwegs, um „Ware“ zu finden. Diese wurde in den allermeisten Fällen auch nicht von „blonden Seeleuten“, sondern von afrikanischen Grumetes zu den wartenden Schiffen gerudert.

Dass ein Schiff aus Liverpool sich ausgerechnet im von Luso-Afrikanern dominierten Ouidah seine Ladung holt, scheint historisch ebenfalls wenig einleuchtend. Es könnte aber eine literarische Reminiszenz an Bruce Chatwins Roman „Der Vizekönig von Ouidah“ sein, dessen titelgebender Charakter auf Francisco Félix de Sousa basiert, einem der mächtigsten Protagonisten im transatlantischen Sklavenhandel des 18. und 19. Jahrhunderts.

De Sousas Porträt ähnelt dem bekannten Foto Garibaldis aus dessen Zeit in Südamerika. Beide Männer sind eng mit der Geschichte Brasiliens verbunden. Der einzige augenfällig Unterschied ist die Hautfarbe de Sousas, die eher der Pigmentierung Colson Whiteheads ähnelt, dessen Vorfahren mütterlicherseits – wie er in einem Interview der New York Times sagte – als Besitzer einer Schankwirtschaft und freie „Schwarze“ in Virginia lebten. Offenbar sahen sie -wie die meisten freien Afroamerikaner vor dem Bürgerkrieg – keine Notwendigkeit, den Südstaaten auf irgendeine Weise nach Norden zu entfliehen, der alles andere war als das gelobte Land.

Slave Cabin auf Mt. Vermont, VA

Historische Vergewisserung: Gedanken zu Colson Whiteheads „Underground Railroad“
Die mit den Rechten redet

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Die mit den Rechten redet

rc_scherzy

16. Dezember 2017

Die an der Uni Berkeley lehrende Soziologin Arlie Russell Hochschild entwirft in ihrem Buch „Fremd in ihrem Land“ ein Psychogramm der Neuen Rechten, das sich auf Gesprächsprotokolle der Autorin stützt. In fünf Jahren füllte sie damit mehr als 4690 Seiten. Und sie redete nicht mit den Scharfmachern, politischen Führern, sondern mit jenen, die geneigt sind, erstere zu wählen. Die entscheidende Frage lautet: Warum tun sie das?

Um Antwort darauf zu finden, begibt sie sich auf die andere Seite der „Empathiemauer“, das heißt zu jenen Menschen, denen ihr übliches Umfeld das Mitgefühl verweigert. Denn: „Unsere Polarisierung und die Tatsache, dass wir uns zunehmend schlicht nicht kennen, macht es allzu einfach, uns mit Abneigung und Verachtung zufriedenzugeben.“

Die „Empathiemauer“

„Eine Empathiemauer“, so Hochschild, „ist ein Hindernis für das Tiefenverständnis eines anderen, das uns gleichgültig oder sogar feindselig gegen Menschen macht, die andere Ansichten haben oder in anderen Verhältnissen aufgewachsen sind.“

Ihre Reise führt sie nach Louisiana, einen Bundesstaat der USA, dessen Bevölkerung zu einem Großteil auf finanzielle Hilfen des Bundes, d.h. der Regierung in Washington, angewiesen ist und gleichzeitig unter einer enormen Belastung durch Umweltverschmutzung und Raubbau an der Natur leidet. Trotzdem ist Louisiana ein Bollwerk rechter Überzeugungen, für Hochschild am Anfang ihrer Studien ein „großes Paradox“, das in nahezu alle „roten“ Bundesstaaten, wo die Mehrheit Republikaner wählt, zu beobachten sei.

Medien, Rassismus und Homophobie

Von Seiten linker Politiker und Journalisten wird immer wieder die Ansicht vertreten, das Wahlvolk der Rechten sei manipuliert und geködert, indem deren Führer, so Hochschild, „an die schlechten Engel ihrer Natur appellieren – an Gier, Selbstsucht, Rassenintoleranz, Homophobie und den Wunsch, keine Steuern mehr zu bezahlen.“

Wie die Autorin anhand einer Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump in New Orleans beobachten konnte, findet dieser Appell auch tatsächlich statt. „Er überdeckt jedoch einen anderen Appell – an die guten Engel des rechten Flügels, an ihr geduldiges Warten in der Schlange in wirtschaftlich besorgniserregenden Zeiten, ihre Fähigkeit zu Loyalität, ihre Opferbereitschaft und ihr Durchhaltevermögen …“ Und die Soziologin liefert eine brilliante Analyse, wie genau Trump das macht. Er agiert keineswegs so planlos und ungeschickt wie es üblicherweise dargestellt wird.

Die ist eine frappierende Erkenntnis, die von Hochschild mit zahlreichen detaillierten Interview-Passagen untermauert wird. Differenzen zwischen eher farbigen und eher weißen Cajuns* gibt es zweifellos. Das wir deutlich, wenn auf einem Friedhof nur auf der Seite, wo die Weißen begraben liegen, der Rasen frisch gemäht ist. „Auf der anderen Seite kommt die Bezahlung aus einer anderen Quelle“, wird der Autorin erklärt.

Eine bis heute andauernde Segregation, die von beiden Seiten** gepflegt wird und ungeschriebenen Regeln folgt, schein allgegenwärtig und führt dazu, dass bei den Interviewpartnern Hochschilds „Schwarze nicht als Nachbarn und Kollegen in ihr Leben [treten], sondern durch Fernseh- und Zeitungsberichte, die unterschiedliche Bilder von ihnen zeichnen.“ In dem einen Programm sind sie reiche, zum Teil exzentrische Megastars, von denen manche vulgäre Texte über Sex und Gewalt rappen. Auf dem anderen fristen sie ein düsteres Leben als Sozialhilfeempfänger. Was fehlt, sind „schwarze Männer und Frauen, die ebenso wie sie [die Weißen] geduldig neben ihnen in der Schlange auf ihren wohlverdienten Lohn warteten.“

Es bestätigt sich weiter, dass rechte Wähler bevorzugt Fox News und andere einschlägige Kanäle ihrer „Filterblase“ (Hochschild verwendet dieses Wort nicht) konsumieren. Das aggressive Vokabular der Kommentatoren übernehmen sie jedoch nicht in ihren Sprachgebrauch. Statt dessen entsteht das Gefühl, ein für seine kontroversen Sprüche bekannter Sprecher wie Rush Limbaugh (Fox) errichte für seine Zuschauer einen „Schutzwall gegen die Beleidigungen, mit denen die Liberalen sie und ihre Vorfahren heruntermachten“.

Das Gefühl massiv verbal angegriffen zu werden, bestätigt sich beim gelegentlichen Umschalten auf liberale Sender wie CNN, MSNBC. Mike Schaff, ein weiterer Interviewpartner, schaut regelmäßig auch dort, um zu sehen, wie liberale Moderatoren die Situation in den Südstaaten darstellen. Seine Erfahrung: „Viele liberale Kommentatoren schauen auf Leute wie mich herab. Wir dürfen das ›N‹-Wort nicht sagen, das wollen wir auch gar nicht, es ist erniedrigend. Warum nehmen liberale Kommentatoren sich dann die Freiheit, das ›R‹-Wort [Redneck] zu benutzen?“

Eine Frau – gebildet und als Flugbegleiterin keineswegs weltfremd, wie die Autorin betont – beklagt sich, sie bekäme bei CNN „Meinungen statt Nachrichten“. Dies erkenne sie „an dem Ton“, den unter anderem Christiane Amanpour anschlägt, wenn sie aus Krisengebieten berichtet. Die Zuschauerin, so Hochschild, habe das Gefühl, unterschwellig von Amanpour beschimpft zu werden, weil ihre Berichte eine starke Aufforderungskomponente enthalten, auf vorbestimmte Art und Weise mitfühlen zu müssen. Aber welcher Mensch will und kann sich seine Gefühlslagen diktieren lassen? Ab- und Gegenwehr sind logische Konsequenzen. Und wer Frau Amanpour nicht direkt empört antworten kann, weil sie ja nur vom Bildschirm herunterflimmert, der schleudert seine Empörung halt denen ins Gesicht, für die mitempfunden werden soll – oder Leuten, die man dafür hält. Oder es werden Politiker gewählt, die sich nicht scheuen, Journalisten als „Fake News“ abzustempeln.

Eine ähnliche Konstellation gibt es bei Nachrichten aus dem Bereich der LGBT-Community. Als Hochschild in einem Gespräch mit Janice Areno, Harolds Nichte, einwendet, Schwule nötigten weder ihr noch anderen einen schwulen Lebensstil auf, entgegnet diese: „O doch, das tun sie!“

Als Beispiel führt Janice einen Auftritt von Chaz Bono in der Show von Jay Leno auf NBC an.
Auch sie schaut also gelegentlich liberale Sender.

Chaz ist das Kind der Popsänger Sonny und Cher. Er war als Mädchen in den 70er Jahren ein Kinderstar, ließ aber später [im Alter von fast 40 Jahren] eine Geschlechtsumwandlung zum Mann vornehmen. Janice kommentiert seinen Auftritt so: „Als Chers Sohn sagte, es wäre einfacher gewesen, wenn er hätte aufwachsen können, ohne auf Vorurteile zu stoßen, fand ich, dass er mir seine Lebensweise aufdrängte. Er will, dass die ganze Welt sich ändert, damit es für ihn einfacher ist, erwachsen zu werden.“

Und wenn Janice, in derem täglichen Umfeld Menschen wie Chaz nicht vorkommen, keine Notwendigkeit sieht, sich selbst oder etwas zu ändern, dann wird sie als „bigott“ bezeichnet. Schlimmer noch, Chaz Bono, der sich um keine Warteschlange kümmern muss, weil er seit seiner Geburt Teil des Amerikanischen Traums ist, sagte in Lenos Show: „Die Tea Party [ultrakonservative Republikaner wie Janice] sind verdammte Verrückte.“

Für ihre Offenheit und ihr Interesse, das sie einer bestimmten Person und deren Problemen entgegenbringt, bekommt Janice also am Ende eine verbale Ohrfeige. Wobei dem sonst eher aufgeschlossenem Chaz keine böse Absicht zu unterstellen ist. Er hält sich nur an das in seinem Umfeld gängige Klischee, ohne es kritisch zu hinterfragen.

Wirtschaft und Umverteilung

Louisiana ist der zweitärmste Bundesstaat der USA. Seit mehr als drei Jahrzehnten leben neunzehn Prozent seiner Einwohner unterhalb der Armutsgrenze, 2016 – Hochschild nennt im Buch etwas ältere Daten – waren es 19,6 Prozent. Auch die Staatsverschuldung Lousianas ist hoch. Hinzu kommet ein erdrückendes Paket von Pensionsleistungen, die der Staat für seine Beamten im Ruhestand aufbringen muss.

Die Ölindustrie, auf die man so große Stücke hält, ist hoch automatisiert. Viele Arbeiter braucht man nur für den Bau einer neuen Anlage.Sie werden jedoch nicht in Louisiana angeworben, sondern kommen zu einem Großteil von außerhalb, vor allem von den Philippinen, und wohnen in sogenannten „man camps“, umzäunte Barackensiedlungen, von denen es heißt, sie würden von Bauarbeitern aus Mexico errichtet.

Auch die Gewinne der Ölindustrie kommen dem Wirtschaftskreislauf vor Ort nur marginal zugute. Alles in allem wird geschätzt, dass etwa ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts von Louisiana – also der Wert aller dort erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen – aus dem Bundesstaat abfließt. Dafür erhält das Land Zuschüsse der Bundesregierung aus Washington, die 44% der Staatseinnahmen ausmachen. Die Hälfte dieser Zuschüsse, also beinahe ein Viertel des Staatshaushalts, sind für Medicaid, das Gesundheitsfürsorgeprogramm für Menschen mit niedrigem Einkommen und Behinderte.

Es wurde auch in deutschen Medien schon mehrfach analysiert, dass rechte Wähler nicht die völlig abgehängten und sozial Schwachen sind. Hochschild liefert dafür eine verblüffend simple Erklärung: „Wenig oder gar nichts vom Staat zu bekommen war eine häufig betonte Ehre.“
Diese Ehre ergebe sich mit den vor einhundert Jahren formulierten Worten des Soziologen Thorstein Veblen „aus dem Abstand zur Notwendigkeit“. Anders gesagt: Je weniger ein Mensch auf den Staat angewiesen ist, umso höher ist sein Status in der Gesellschaft.

Es scheint etliche Menschen zu geben, die in dieser Hinsicht einen Balanceakt vollführen und ihr Leben zumindest in Teilen den Leistungen des Wohlfahrtsstaates angepasst haben. Hochfelds Interviewpartner müssen nicht lange nachdenken, um Beispiele im eigenen Umfeld zu finden, für die sie durchaus Verständnis zeigen. Nur stemmen sie sich mit aller Kraft dagegen, nicht in eine vergleichbare Lage zu geraten.

Spannend wird es immer, wenn die Soziologin ihre Gegenüber mit alternativen Lösungsansätzen konfrontiert, zum Beispiel nachfragt, ob man nicht die Unternehmen stärker besteuern sollte, anstatt sie immer weiter zu entlasten in der Hoffnung, das würde Arbeitsplätze und Einnahmen für den Staat bringen.

Diese Dialoge und begleitende Recherchen zu jedem neuen Argument, dass die Gesprächspartner vorbringen, nehmen im Buch einen breiten Raum ein. Das Resultat ist gehaltvoll, aussagefähig und belastbar. Selbstverständlich gibt es auch eine „Tiefengeschichte“ der linken, liberalen Kräfte und eine vergleichende Analyse.

Am Ende schreibt Arlie Russell Hochschild: „Für die Linke liegt das Spannungsfeld im oberen Bereich der Klassenhierarchie (zwischen der obersten Spitze und dem Rest), für die Rechte liegt es zwischen der Mittelschicht und den Armen. Die Linke sieht das Zentrum des Spannungsfelds im Privatsektor, die Rechte im öffentlichen Sektor. Ironischerweise fordern beide gerechten Lohn für ehrliche Arbeit.“

Um hier zu einem Kompromiss zu kommen – wenn es das Ziel ist, die Gesellschaft zusammenzuhalten anstatt zu spalten – ist es notwendig, die Motivation zu verstehen (ohne sie uneingeschränkt zu billigen), die das Handeln der jeweils anderen Seite bestimmt. Eben das ist das Anliegen dieses Buches.

Wer auf der Suche nach Antworten ist, sollte es unbedingt lesen.

* Laut Prof. Dr. Henry L. Gates jr., der an der Universität Havard „African American Studies“ unterrichtet, liegt der Anteil europäischer Gene bei den heute lebenden African Americans im Durchschnitt bei 25%. Ähnlich sieht es bei manchen US-Amerikanern europäischer Abstammung aus. George W. Bush zum Beispiel ist (über seine Mutter Barbara) ein direkter Nachkomme von Pocahontas. Aber selbstverständlich ist auch der Genpool nicht alles, was einen Menschen ausmacht!

** Über 20% der „Hate Groups“ (aktuell: 193 von 917) in den Vereinigten Staaten fallen unter die Kategorie „Schwarze Separatisten“, obwohl nur 12,6% der Bevölkerung als „African Americans“ klassifiziert werden. Details siehe: https://www.splcenter.org/hate-map

Weiterführende Links zur Volkswirtschaft Louisianas:

https://talkpoverty.org/state-year-report/louisiana-2016-report/

https://ballotpedia.org/Louisiana_state_debt

http://www.thepelicanpost.org/2012/01/23/the-big-debt/

 

Infos zum Buch:

Arlie Russell Hochschild: „Fremd in ihrem Land“, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2017

Gebunden: 29,95 €

e-Book (Deutsch): 25,99 €

e-Book (Englisch): 16,99 €

Christiane von Goethe: Die unterschätzte Partnerin

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Christiane von Goethe: Die unterschätzte Partnerin

rc_scherzy

29. Oktober 2017

Was hat er denn an der gefunden? Diese Frage beschäftigte Zeitgenossen und später Literaturwissenschaftler bis in unsere Tage.

Noch immer wird Christiane von Goethe häufig unter ihrem Mädchennamen Vulpius genannt, als gehöre sie nicht wirklich dazu, an die Seite des Dichterfürsten.

Tatsächlich lebten die beiden beinahe zwanzig Jahre lang in Wilder Ehe und damit in einer für den Umgang mit dem Weimarer Hof schwierigen Situation. In literarischen Kreisen wie auch in der feinen Gesellschaft ließen zudem zwei andere Frauen keine Gelegenheit aus, Christiane zu diskreditieren und als unbedarftes Landei erscheinen zu lassen. Charlotte von Stein und Charlotte von Schiller verhehlten ihre persönliche Abneigung nie, legten darüber hinaus Bekannten und Besuchern ihre Sicht der Dinge nahe. Aber der Dichter und Geheime Rat nahm dergleichen hin, ohne sich davon beeinflussen zu lassen.

Was Goethe und seine Frau zusammenführte und im Innersten verband, dieser Frage geht Eckart Kleßmann in seinem Buch „Christiane – Goethes Geliebte und Gefährtin“ nach. Es sei keine Biografie, eher ein Essay, betont der Autor, der einen klassisch-sachlichen Erzählstil pflegt. Sein Werk lebt vor allem von Fakten und Anekdoten. Damit unterzieht er das von Steinin, Schillerin und anderen Klatschtanten wie etwa Bettine von Armin geprägte Bild der etwas tapsigen Haushälterin, die allein aus praktischen Gründen auch noch als „Bettschatz“ fungiert, einer kritischen Untersuchung.

Sind die Zeichen richtig zu deuten, dann lag recht schnell ein erotisches Kribbeln in der Luft, als sich Christiane und Johann Wolfgang am 12. Juli 1788 zum ersten Mal trafen. Sie war dreiundzwanzig, er siebenunddreißig Jahre alt. Charlotte von Stein, um das noch zu erwähnen, war sieben Jahre älter als Goethe und hätte damit theoretisch Christianes Mutter sein können. Neben der Eifersucht, die Christianes Auftauchen in Goethes „Seelenverwandter“ weckte, spielte damit sicher auch eine Art Generationenkonflikt eine Rolle.

Knapp vier Wochen zuvor war Goethe von seiner Italienreise nach Weimar zurück gekehrt. Dort hatte er, so wird vermutet, zum ersten Mal im Leben seine Sexualität frei ausleben dürfen. Christianes lebhafte, ungezwungene Art – er nannte sie später oft „mein kleines Naturwesen“ – weckte möglicherweise Erinnerungen, auf jeden Fall Begehren.

Den Entschluss, sie zu ehelichen, fasst Goethe allerdings erst 1806, nachdem seine Lebensgefährtin marodierende französische Soldaten daran gehindert hat, gegen ihn handgreiflich zu werden.

Verbindend war all die Jahre hindurch der gemeinsame Sohn August (geb. 25.12.1789) und die Erinnerung an vier weitere Kinder, die tot geboren wurden (2. Sohn) oder kurz nach der Geburt starben: Caroline (21.11. – 04.12.1793), Karl (30.10.-16.11.1795) und Kathinka (16.12.-19.12.1802).

Dann die Begeisterung für Garten (Christiane) und Flora. Goethe hatte aus Italien die Idee der „Urpflanze“ mitgebracht. Ein anderes Gewächs, das beide in Ehren hielten, war der Wein. Goethe soll im Durchschnitt drei Flaschen pro Tag getrunken haben. Christiane konnte gelegentlich gut mithalten, vor allem beim Champagner.

Eine wichtige Stütze war sie ihm – von den meisten unbemerkt – im Theaterbetrieb. Sie schickte Goethe Berichte von Vorstellungen, die er selbst nicht besuchen konnte, gab Feste für die Schauspielerkinder und schlichtete Konflikte. Bei letzterem dürfte von Vorteil gewesen sein, dass sie als Kind Haus an Haus mit Karoline Jagemann aufgewachsen war, einer begnadeten Schauspielerin und Mätresse des Herzogs Karl August. Nur ein Jahr nach Christianes Tod verlor Goethe durch einer Intrige Jagemanns seinen Posten als Theaterdirektor in Weimar. (Er hatte sich geweigert, eines der damals populären Hundetheater auf der Bühne zu zeigen. Mit viel Witz erzählt der Schauspieler Eberhard Esche die Details dieser Affäre in seinem Buch „Der Hase im Rausch“.)

Christiane war eine gute Gastgeberin. Wer ihr vorurteilsfrei begegnete, lobte ihre Natürlichkeit und nicht nur Elisa von der Recke bestätigt: „… daß ich sie nie von andern Böses sprechen hörte.“

Im Vergleich dazu aus einem Brief Charlotte von Steins an ihren Sohn Fritz: „Seine Demoiselle, sagt man, betrinkt sich alle Tage, wird aber dick und fett, der arme Goethe, der lauter edle Umgebungen hätte haben sollen!“

Gewiß war Goethe im Sinne feministischer Theorien ein Patriarch, der viel mit seinen eigenen Interessen befasst, oft unterwegs und in Fragen der Kindererziehung überfordert war. Er konnte auch nicht gut mit Krankheiten umgehen und alles, was das Sterben und den Tod betraf, war ihm zutiefst zuwider. Weshalb er auch in ihren letzten Stunden nicht bei Christiane blieb. Doch weder August noch die engagierten Pflegerinnen vermochten den Anblick der Sterbenden zu ertragen, deren bewußtloser Körper immer wieder von heftigen Krämpfen geschüttelter wurde.

Fakt ist: alle Angriffe, Schmähungen, Ungerechtigkeiten, die Christiane über sich ergehen lassen musste, gingen von anderen Frauen aus, die von ihren eigenen intellektuellen Fähigkeiten besonders eingenommen waren. Sie meinten daher zu wissen, welche Art Partnerin für Goethe angemessen gewesen wäre – ohne ihn selbst zu fragen. Die üble Nachrede dieser berühmten Frauen brachte schließlich auch berühmte Männer dazu, Beleidigendes über Christiane zu schreiben. Auf die Spitze trieb es damit Thomas Mann, der in seiner „Phantasie über Goethe“ (1948) Christiane als „sehr hübsch und gründlich ungebildet, un bel pezzo del carne (ein schönes Stück Fleisch)“ bezeichnet.

Nicht zuletzt der Briefwechsel Christianes mit ihrem Mann eröffnet eine ungewöhnliche, oft auch vergnügliche Perspektive auf den Charakter der beiden. Heraus sticht ein kaum verhüllte Erotik, mit der sich beide „Hätschel- und Schlenderstündchen“ (Goethe) wünschen, was Christiane zu „Schlampampsstündchen“ verkürzt. Vor allem sehnt sie sich danach, wenn sie „hasig“ ist. Dann möge der „Herr von Schönfuß“ einkehren, sofern sie nicht „Besuch von einem Meerweibchen“ hat. Das Ergebnis mag eine „Krabskrelligkeit“ sein oder ein „Pfuiteufelchen“.

Es ist erfrischend und sinnlich zugleich zu lesen, wie der in Kunst so auf Form bedachte Goethe dieses Spiel auf gleicher Höhe mitspielt. Auch darin liegt der hohe Unterhaltungswert von Kleßmanns Buch.

Am Ende der Lektüre bleibt das Bild einer Frau, die man wünscht, zu Lebzeiten kennengelernt zu haben.

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Info zum Buch

Kleßmann, Eckart: „Christiane. Goethes Geliebte und Gefährtin“, TvR Medienverlag Jena, 2016 (erweiterte Neuauflage der 1992 im Fischer Verlag erschienenen ersten Ausgabe)

Preis (gebundene Ausgabe mit Abbildung): 17,90 Euro

Marcus Garvey: „… dann lynchen wir sie eben in Afrika!“

Nachdenkliches 0 comments Klu-Klux-Klan, Marcus Garvey, New York, Rassismus, USA

Marcus Garvey: „… dann lynchen wir sie eben in Afrika!“

rc_scherzy

15. September 2017

In Europa ist er kaum bekannt, einer der wichtigsten Influencer der 20. Jahrhunderts: Marcus Garvey.

Garvey kam 1916 aus Jamaika nach New York zu einer Zeit, als die Great Migration in vollem Gange war. Da er bereits in seiner Heimat politische aktiv gewesen war, ging er zielstrebig daran, seine politische Organisation, die Universal Negro Improvement Association (UNIA) weiter auszubauen. Neue Mitglieder fand er schnell vor allem unter den von ihrem Möglichkeiten im Norden enttäuschten Zuwanderern aus den Südstaaten der USA.

Während der Gefreite Adolf Hitler noch als Meldegänger durch die Schützengräben des 1. Weltkrieg schlich, verfügte Garveys UNIA bereits über uniformierte Einheiten, eine Parteizeitung (The New Negro World), straff organisierte Jugendorganisationen und ein Kraftfahrerkorps. Ende der 1930er Jahre warf Garvey deshalb Mussolini (und damit auch Hitler) nicht zu Unrecht vor, er habe seine Ideen und organisatorischen Strukturen lediglich kopiert.

Originalzitat Garvey: „Meine Anhänger waren die ersten Faschisten. Als wir 100.000 disziplinierte Männer hatten und Kinder ausbildeten, war Mussolini noch unbekannt, Mussolini hat unseren Faschismus kopiert.“

Garvey war ein Populist par excellence, der die vorhandenen ökonomischen, gesellschafts- und kulturpolitischen Differenzen geschickt für seine Zwecke zu nutzen wußte. Kompromisslos prangerte er die Unterdrückung und systematische Benachteiligung der afrikanisch-stämmigen Bevölkerung in den USA und Zentralamerika an. Dabei propagierte er selbst eine Lösung, die auf Rassentrennung und einer Rückeroberung Afrikas fußte. Er sah sich als Führer aller „Schwarzen“, manchen galt er gar als Messias.

Seine Reden waren elektrisierend und gespickt mit hochprovokativen Statements, zum Beispiel:  „Wenn es in Amerika unmöglich ist, Weiße zu lynchen, dann lynchen wir sie eben in Afrika!“

Zu seinen wichtigsten politischen Gegnern zählten Intellektuelle aller Art, vor allem William Edward Burghardt Du Bois, der 1895 als erster Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln einen akademischen Grad in Havard erworben hatte.

In seiner Ablehnung des Bildungsbürgertums ging Garvey so weit, sogar im Ku-Klux-Klan Verbündete zu sehen. 1922 nahm er an einem Treffen des Klans in Atlanta teil. Ein Jahr später schrieb er in der September-Ausgabe der New Negro World, offen rassistische und separatistische Organisationen wie der Klan seien „better friends of the [black] race than all other hypocritical whites put together.”

Sein Fokus auf Rasse und Hautfarbe machte ihn allerdings blind für Risiken anderer Art. Begeistert von der Idee, eine ausschließlich von Afrikanern betriebene Parallel-Wirtschaft aufzubauen, gründete er bereits 1919 eine Reederei, die Black Star Line. Die Anteilsscheine dafür zeichneten die Mitglieder der UNIA. Sechs Millionen Menschen (die Zahl ist wahrscheinlich stark übertrieben) marschierten nach Angaben der Organisation zu dieser Zeit unter Garveys Banner, einer rot-schwarz-grünen Flagge. Viele verloren ihre Ersparnisse, weil das Kapital der Black Star Line von Geschäftspartnern und Managern veruntreut, das Unternehmen zudem vom FBI unterwandert wurde.

Um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, folgte Garvey der Ausweisung nach Jamaika. Später siedelte er nach London um, wo er 1940 im Alter von 52 Jahren starb. Teile seiner Ideologie wurden von unter anderem von Malcolm X und der Nation of Islam übernommen. Aber viel wichtiger erscheint mir dennochdie Frage, wie viel Marcus Garvey in jedem einzelnen von uns steckt.

Die hier verlinkte Filmdokumentation (engl. Sprache) bietet einen hervorragenden Einblick in Garveys Leben und Werk und lässt vor allem zahlreichen Zeitzeugen zu Wort kommen:

Ebenfalls aufschlussreiche Lektüre: http://www.zeit.de/2014/37/rassismus-ferguson-afroamerikaner/komplettansicht

Fotonachweis: U.S. Library of Congress, George Grantham Bain Collection, Reproduction number LC-USZ61-1854 (b&w film copy neg.). Card #2003653533.

Die Kämpfe der Aspirational Class

Nachdenkliches, Rezensiertes 0 comments Aspirational Class, Conspicuous Consumption, Conspicuous Production, Elizabeth Currid-Halkett, Inconspicuous Consumption, Leisure Class

Die Kämpfe der Aspirational Class

rc_scherzy

2. September 2017

Wer wie ich unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus aufgewachsen ist und anschließend in das lauwarme Wasser der Sozialen Marktwirtschaft geworfen wurde, um darin schwimmen zu lernen, der hat ein recht gutes Gefühl für Schieflagen in der Gesellschaft entwickelt.

Ein Konzept, das in beiden politischen Systemen universelle Gültigkeit beansprucht und mir nie recht zutreffend erschien, ist die vertikale Unterteilung der Bevölkerung in Klassen und Schichten aufgrund ihres Einkommens und Besitzstandes.

Marx und Engels veröffentlichten 1848 „Das Manifest der Kommunistischen Partei“ und erklärten darin den Privatbesitz von Produktionsmitteln zum wesentlichen Unterscheidungsmerkmal zwischen Bourgeoise und Proletariat, zwischen Ausbeuter- und Arbeiterklasse. Das war der damals die Gesellschaft prägende Aspekt, der bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts Gültigkeit besaß. Heute werden Teenager zu YouTube-Stars und brauchen dafür nur ein Minimum an Produktionsmitteln. Im Zweifelsfall reicht ein Smartphone.

Die Massenproduktion hat wichtige Produktionsmittel und ehemalige Luxusgüter im wesentlichen für alle erschwinglich gemacht, insbesondere für die Menschen der mittleren Einkommensklassen.

Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannte der Soziologe Thorstein Veblen, dass in der Klassengesellschaft noch andere Mechanismen wirken, die teils von Besitzständen abhängig waren, teils aber eben auch nicht. Seine Beobachtungen formulierte er in dem Buch „The Theory of the Leisure Class“ (1899, Titel der deutschen Übersetzung: „Theorie der feinen Leute“), in welchem er untersuchte, wie sich die unterschiedlichen sozialen Klassen und Schichten durch Einsatz von Statussymbolen und Verhaltensnormen voneinander abhoben.

Ausgehend von Veblens Arbeit und Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ (1979) entwirft die Soziologin Elizabeth Currid-Halkett jetzt ein Bild der modernen Gesellschaft westlicher Prägung, das mich in seiner Gesamtheit überzeugt. Sie nennt ihr Buch „The Sum of Small Things. A Theory of the Aspirational Class.“

Diese „Aspirational Class“ (aufstrebende, ambitionierte Klasse) vereint Menschen völlig unterschiedlicher Einkommensklassen, die gemeinsame Werte besitzen und durch ihr breit aufgestelltes Wissen reich an kulturellem Kapital sind. In einer Welt, in der materielle Dinge für breite Massen erschwinglich sind, so die Grundthese, verlieren diese Besitztümer ihre Funktionen als Statussymbol. So hat heute selbst ein Wachmann dank Leasing die Möglichkeit, einen getunten AMG-Mercedes legal zu erwerben und damit illegale Rennen auf dem Kurfürstendamm zu fahren (http://www.zeit.de/2016/51/autorennen-berlin-mord-klage-urteil/komplettansicht).

Wenn also teure Autos und Uhren nur noch im Ausnahmefall (z. B. Ferrari oder Rolex „Limited Edition“) zur Selbstdarstellung ihrer Besitzer taugten, wie differenzierten sich diese dann vom Rest der Gesellschaft? Denn dass wir das Bedürfnis haben, unserer Persönlichkeit Ausdruck zu geben und uns damit von unseren Mitmenschen zu unterscheiden, ist – bei allem, was Menschen verbindet – nicht von der Hand zu weisen.

Die Antwort der Autorin lautet, dass der Rückgang des offensichtlichen Konsums (conspicuous consumption) durch zunehmenden nicht-offensichtlichen Konsum (inconspicuous consumption) komplementiert wird. Dazu gehören steigende Ausgaben für Bildung, Gesundheits- und Altersfürsorge, haushaltsnahe Dienstleistungen, aber auch Ausgaben für kulturelle Erlebnisse und ein erweitertes Erfahrungsspektrum, z.B. durch Reisen.

Weiter sei festzustellen, dass Veblens Leisure Class nicht länger existiere: „Die Umgestaltung der globalen Wirtschaft hat zu einer Leistungsgesellschaft geführt, in welcher der Besitz von Produktionsmitteln nunmehr geistiger Art ist, kein Landbesitz mehr.“ („The restructuring of the global economy prizes a meritocracy, who own the means of production through their minds, not land ownership.“)

Im Zuge dessen sei eine zunehmende Ungleichheit zu beobachten, die ihr Kollege Jonathan Gershuny wie folgt beschreibe: Jene, die viel Geld verdienen, arbeiten auch hart daran, etwas damit und daraus zu machen. Für sie ist echte Freizeit (leisure time) die kostbarste Ressource von allen. Jedoch werde eben diese hart erarbeitete Freizeit zunehmend mit nicht-offensichtlichem Konsum gefüllt, was dazu führe, dass große Teile der Freizeit paradoxerweise mit zusätzlicher Produktivität gefüllt werden.

Genau das ist es, was ich gerade mache, während ich diese Zeilen schreibe.

Auch viele unsere Aktivitäten in den Sozialen Netzen, der Konsum von Nachrichten und Kommentaren, dient nach Currid-Halkett nicht ausschließlich, aber eben doch auch dazu, den eigenen sozialen Status zu definieren und zu verteidigen. Wer mitreden will, muss wissen, welche Themen aktuell sind. Es ist auch notwendig, über bestimmte Ausdrucksmöglichkeiten zu verfügen, um in einer Debatte mitreden zu können. Wir sind kulturelle Omnivoren geworden, mit Halb- und Viertelwissen begnadet auf vielen Gebieten. Und wo uns das nötige Wissen fehlt oder Zusammenhänge zu komplex sind, versuchen wir die Wahrheit empathisch zu erfühlen.

Zeit ist ein kritischer Faktor für Lernprozesse. Veblens „Leisure Class“ benötigte sie, um sich neben käuflichem Besitz, Manieren, Geschmack und eine gehobene Ausdrucksweise in Wort und Schrift anzueignen. Zwar haben strenge Etikette und Konversationsnormen an Bedeutung verloren, aber die Bandbreite der Themenpalette ist breiter geworden, vielfältiger.

Mehr Vielfalt bedeutet mehr Themen, die sich anbieten, um einmal mehr auf sich aufmerksam zu machen, dabei zu sein. Und auch das Wissen um den Herstellungsprozess ist heute wichtiger als die Wertigkeit der eingesetzten Materialien. Currid-Halkett spricht in diesem Zusammenhang von conspicuous production, am besten übersetzt als: transparente Produktion. Güter aus diesem Segment sind ein wesentlicher Teil des Konsumverhaltens der Aspirational Class, deren Mitglieder man verschiedentlich sagen hört: „Wir sind, was wir essen, trinken und kaufen.“

Hier öffnet sich dann auch die Schere der oft beklagten Ungleichheit innerhalb der Aspirational Class. Die Autorin erklärt, dass es den nicht sichtbarer Konsum in zwei verschiedene Ausprägungen gibt: cost-of-information inconspicuous consumption erfordere keine monetären Investitionen, sondern vor allem Zeit, sich in bestimmte Themengebiete einzuarbeiten. Wer Vollzeit arbeitet und davon noch eine Familie ernähren muss – das schließt ganz besonders alleinerziehende Frauen ein -, dem bliebt nicht viel Zeit für solche Studien. Auf der anderen Seite haben Superreiche, Studenten, die von ihren Eltern finanziert werden und Menschen, die es schaffen, mit den Sozialleistungen des Wohlfahrtsstaates auszukommen, ein großes Pensum an Zeit verfügbar, das sie für cost-of-information inconspicuous consumption einsetzen können.

Die andere Seite der Medaille ist, was die Autorin cost-prohibitive inconspicuous consumption nennt: eine Palette oft sehr teurer Dienstleistungen, zu denen die in den USA sehr hohen Studiengebühren für den Besuch höherer Bildungseinrichtungen gehören. Daneben gehören in diese Kategorie Ausgaben für Kinderbetreuung, Haushaltshilfen, Lieferdienste und Investitionen in Gesundheits- und Altersvorsorge über das staatlich garantierte Mass hinaus.

Diese Ausgaben führen zu Entlastungen in vielen Lebensbereichen, generieren damit Zeit, die wieder genutzt werden kann, um mit den neuesten Trends und Threads up to date zu bleiben. Sie katapultieren aber auch die Kinder aus der vermögenden Schicht der Aspirational Class in ein Umfeld, dass es ihnen erlaubt, sich „standesgemäß“ in der Gesellschaft zu etablieren. Die Kinder selbst, so Currid-Halkett, mögen dabei das Gefühl haben, sich diese Position hart zu erarbeiten, denn ihnen werden zusätzliche Aktivitäten wie das Erlernen von Instrumenten oder Leistungen im Sport abverlangt. Hinzu kommt gegebenenfalls Nachhilfeunterricht oder der Besuch privater Ganztagsschulen. Die Ausstattung mit technischen Geräten, die den frühzeitigen Umgang mit modernen Kommunikationstools und sozialen Netzen ermöglichen, sind ein weiterer Faktor. Der allerdings für Schüler aus allen Einkommensklassen allmählich Standard wird.

Am Ende erklärt Currid-Halketts Modell wie es möglich ist, dass die Aspirational Class eine breite Palette völlig unterschiedlicher Individuen vereint, den Hollywood-Star mit Millionengagen ebenso wie den arbeitslosen Drehbuchautor. Was sie vereint, sind gleiche Werte, die gleiche Moral. Das heißt aber nicht, dass sie den gleichen sozio-ökönomischen Status hätten. Im Gegenteil sei es zunehmend schwierig, wenn nicht unmöglich, gesellschaftlichen Aufstieg zu bewerkstelligen, weil die eigentliche Oberklasse, die obersten 5 Prozent der Einkommenshierarchie, ihre Positionen auf vielfältige Weise zu verteidigen verstehe. Wie schon Bourdieu festgestellt habe, sei ein solcher Aufstieg allein durch Erwerb materieller Güter nicht zu bewerkstelligen. Die Aspirational Class versuche daher, über den Erwerb von Wissen und durch ein Wertesystem, dessen Grundlage die Aneignung umfangreicher Kenntnisse sei, ihren Lebensstil sozial und kulturell aufzuwerten. („All of these subtle cues suggest knowledge and a value system acquired through extensive acquisition of knowledge—and an aspiration to achieve a higher cultural and social way of being.“)

Ein wenig erinnert mich das an Walter Ulbrichts Maxime, den Kapitalismus zu überholen, ohne ihn einzuholen. In jedem Fall ist es ein Angriff auf die Dominanz der Oberklasse, deren Angehörigen – in manchen Fälle zu Recht – unmoralisches Verhalten vorgeworfen wird. Damit, so die unausgesprochene Logik, verwirke sie ihren Führungsanspruch, der selbstredend den moralisch Überlegenen zukomme.

Man kann, meine ich, viele Diskussionen um soziale Gerechtigkeit und die Umverteilung des materiellen Reichtums auch als Angriffe der Aspirational Class auf die Oberklasse deuten, die es nach dem Sieg auf dem Schlachtfeld der Moral auch ökonomisch in die Knie zu zwingen gilt. Und wer die ökonomische Macht hat, das lehrt der Marxismus, verlangt auch die politische Macht.

Ein Problem ist allerdings die enorme Vielfalt an Themen und Meinungen, die man mit allerlei Statistiken inklusive alternativer Fakten zu belegen sucht. Wie immer, wenn sich breite Massen zu erheben versuchen, kommt es zu Grabenkämpfen. Und so zerfleischen sich vor allem in den sozialen Netzwerken Vegetarier und Veganer, Feministen und Queerfeministen und die Vertreter oder selbsternannten Beschützer dieser und jener Minderheiten.

Es ist ebenso auffällig, dass diese Grabenkämpfe innerhalb der urbanen Denkeliten ausgetragen und kommentiert werden. Wer in ländlichen, weniger entwickelten Gebieten lebt, bleibt außen vor, versteht oft gar nicht, worum es in diesem Debatten überhaupt geht. Als typisches Beispiel verweist Currid-Halkett auf die Praxis des Stillens von Säuglingen. Junge Müttern in Los Angeles und New York City (und mehr noch in Deutschland) sehen das als einzig richtige Art der Säuglingsernährung an. Afroamerikanische Mütter aus niederen Einkommensklassen in Atlanta, Georgia, würden, käme eine von ihnen die Idee, ihrer Kinder zu stillen, in ihrer Community für verrückt erklären. („In cultures like low income African Americans in Atlanta Georgia nobody breast-feeds and if you do you’re a fool.“)

Wenn man diese Differenzen aus der Sicht der Oberklasse betrachtet, dann liegt es nahe, daraus eine Strategie zu entwickeln, die dem eigenen Machterhalt dient. Es scheint relativ einfach, beliebig neue Argumente unters Volk zu werfen, vor allem solche, die Rassen- und Klassenkonflikte befeuern. Wer lang genug wühlt, wird an jeder Idee, jedem Konzept, egal ob neu oder bewährt, etwas auszusetzen finden. Und wenn zwei sich streiten, freut sich bekanntlich der Dritte.

 

Das Buch

Elizabeth Currid-Halkett: „The Sum of Small Things. A Theory of the Aspirational Class.“ Princeton: Princeton University Press, 2017. Gebundene Ausgabe: 23,99 €, e-Book: 20.39 €
Elizabeth Currid-Halkett: „The Sum of Small Things. A Theory of the Aspirational Class.“ Princeton: Princeton University Press, 2017. Gebundene Ausgabe: 23,99 €, e-Book: 20.39 €
Scheherazade im Winterland

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Scheherazade im Winterland

rc_scherzy

18. August 2017

Nadiras Mutter Ifeta heiratet den zwanzig Jahre älteren Witwer Dervo, um den Arbeiteinsätzen zu entgehen, zu denen die kommunistische Verwaltung im Jugoslawien der Nachkriegsjahre alle ledigen Mädchen heranziehen will.

Ihr Onkel Taib bringt ihr im Alter von fünf Jahren Lesen und Schreiben bei und überredet die Eltern, Nadira zur Schule zu schicken: „Er wünschte sich, einen Sohn zu haben, so klug wie Nadira. Ihm fiel gar nicht auf, dass der Wunsch ein bisschen schief wirkte.“

Gefangen in einer Welt, der sie sich aus mancherlei Gründen nicht wirklich zugehörig fühlt, entdeckt sie das Sehnsuchtsreich der Bücher: „Wie viele andere Kinder ihrer Generation verschlang sie gierig die bunten Lügen von Branko Ćopić und glaubte, auf der Welt lebten nur Märchenonkel und Helden mit Taubenherzen, Mädchen mit großen, dunklen Augen und Jungen, die in diese Mädchen verliebt waren.“

Der Konflikt mit den Eltern eskaliert, als ihre Lehrerin sie ohne Wissen (und Genehmigung!) des Vaters zur Teilnahme an einem Literaturwettbewerb drängt, den sie wider Erwarten gewinnt.

Safeta Obhodjas‘ „Scheherazade im Winterland“ ist ein Buch über eine Frau, die ihren Weg durchs Leben finden muss in einer Gesellschaft, hinter deren Fassade einer von den Machthabern propagierten kosmopolitischen Gesellschaft das traditionelle Familienleben mit den Möglichkeiten und Herausforderungen der Moderne kollidiert.

Einige Szenen sind autobiographisch geprägt, der Stil der Erzählerin geradelinig und durchdacht. Wie immer bei Safeta Obhodjas bekommt der Leser tiefe Einblicke in das Innenleben der Protagonistin, ihre Gedanken und Wertewelt.

Es ist ein Buch über kulturellen Wandel und Widerstände, die ihm entgegentreten. Und es ist ein Buch über die Emanzipation muslimischer Frauen mit vielen Hindernissen und ebenso vielen Männern – Vater, Ehemann, Mentoren – die bei jedem Erfolg der Frau aus dem Schatten treten, um zu betonen, ohne sie wäre das alles nie möglich gewesen.

„Ich bin die Autorin, deren Buch sich verkauft, aber nicht beachtet wird“, resümiert Nadira am Ende des Romans. „Es ist mir egal was sie denken. Ich weiß, dass ich mich mit meinen Themen nicht vergriffen habe. Ich will und muss über das schreiben, worüber andere, sogar Frauen, schweigen. Das, was ich schreibe, gehört nicht dem Onkel, nicht ‚ihm‘, nicht Nada, nicht Streten, es ist meins, nur meins!“

Erstmals erschienen als gebundene Fassung im Jahr 1998 gibt die Autorin jetzt eine überarbeitete Auflage im Selbstverlag als e-Book bei Amazon heraus. Preis: 8.05 Euro, für Kindle Unlimited: kostenlos.

Der Aleppo Codex

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Der Aleppo Codex

rc_scherzy

28. Mai 2017

„Ich rechnete damit, ein erbauliches Buch über die Rettung einer alten Handschrift zu schreiben, und wurde wie jemand, der ahnungslos einen Schrank öffnet, plötzlich unter einem Haufen vergessener Dinge begraben.“

Zu diesem Fazit kommt der Autor Matti Friedman am Ende seines Buches, das sich mit der Geschichte des Aleppo Codex befasst. Es handelt sich dabei um die älteste erhaltene herbräische Bibel, aufgeschrieben und kommentiert um 920 n.C. vom Gelehrten Aaron Ben Ascher und seinem „flinken Schreiber“ Sch’lomo ben Buya’a in Tiberias (heutiges Israel).

Die Pergamentseiten haben eine wechselvolle Geschichte mit einigen dramatischen Wendungen erlebt. Sie überstanden die Plünderung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099 und etliche Jahrzehnte im ägyptischen Exil, ehe sie Ende des 14. Jahrhunderts nach Aleppo gelangten.

„Die Juden von Aleppo waren schon eine alte Gemeinde, als die römischen Legionen im Jahre 70 n.C. den Tempel in Jerusalem zerstörten. Und sie waren eine uralte Gemeinde, als im 7. Jahrhundert die Muslime kamen“ – in deren politisches System sie sich zunächst hervorragend integrierten.

Es hat sogar, berichtet Friedman, eine Zeit gegeben, in den 1930er Jahren, wo man als Jude in Aleppo syrischer Nationalist und Zionist zugleich sein konnte. Die meisten Juden Aleppos, die danach strebten, sich politisch zu engagieren, verstanden sich bis kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Syrer, die mit ihren arabischen Nachbarn gemeinsam gegen die französische Schutzmacht Parolen skandierten, die in einer Rezension eher nicht zitiert werden sollten. Doch kaum waren die Franzosen verschwunden, wendete sich das Blatt.

Obwohl die syrischen Juden auf vielfache Weise versicherten, mit den aus Europa nach Palästina strömenden Auswanderern nicht mehr als den Glauben gemein zu haben – und auch das war in vielen Fällen eine gewagte Parallele – wurden sie Ziel massiver Angriffe.

In Aleppo brach der Sturm am 30. November 1947 los. Weniger Stunden zuvor hatte die UNO-Vollversammlung der Gründung des Staates Israel zugestimmt. Was folgte, zeigte erschreckende Parallelen zu dem, was sich neun Jahre zuvor, am 9. November 1938 in Deutschland zugetragen hatte. Der „Volkszorn“ machte sich Luft und zündete Synagogen, jüdische Schulen, Geschäfte und Wohnhäuser an.

Auch die Große Synagoge Aleppos wurde gestürmt und in Brand gesteckt. In einer dunklen Kammer des Gewölbes fanden die Randalierer eine verschlossene Kiste, die sie von hinten aufbrachen. Sie enthielt aber nur alte Schriften, die man achtlos im Innenhof der Synagoge verstreute. Damit lag der Codex, der wegen seines besonderen Wertes auch „die Krone von Aleppo“ genannte wurde, für jeder Mann sichtbar und zugänglich auf der Straße. Seine weitere Gesichte ist untrennbar mit den Menschen verbunden, die sich seiner annahmen oder indirekt mit ihm zu tun hatten. Das waren viele. Und so ist Friedmans Buch eine reiche Sammlung von Erinnerungen.

Oft sind es Kindheitserinnerungen an eine Welt, die in der Vergangenheit versunken ist, ohne dass der Rest der Welt Kenntnis davon zu nehmen schien. Zehntausend Menschen zählte die jüdische Gemeinde von Aleppo 1947, dreihunderttausend, ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Stadt, waren es in Bagdad. Wo sind sie geblieben?

Reste der Aleppo-Gemeinde finden sich in Buenos Aires, in New York und natürlich in Israel. Wobei Israel zur Heimat für jene wurde, die es sich nicht leisten konnten, andere Ziele zu erreichen. „Diese Neuankömmlinge“, konstatiert Friedman, „hatten wenig mit den europäischen Juden gemein, die bis dato in der Überzahl gewesen warn. Einige der führenden Israelis … sahen in ihnen die Angehörigen einer niederen Rasse, die vor allem deshalb so wichtig waren, weil der Pool in Europa, aus dem der neue Staat seine Manpower hatte schöpfen wollen, vernichtet worden war.“

Zur gleichen Zeit wurden die noch in arabischen Ländern lebenden Juden zunehmend unterdrückt. Einerseits erlaubt man ihnen nicht die Ausreise, sie duften noch nicht einmal ihren Wohnort verlassen. Dahinter stand Überlegungen, sie als Druckmittel bei Verhandlungen mit Tel Aviv und seinen Partnern zu benutzen. Andererseits waren sie der Willkür der arabischen Behörden ausgeliefert und mussten ihr Leben unter Auflagen fristen, die denen in Deutschland vor Ausbruch des 2. Weltkriegs nahekamen. Speziell in Syrien stempelten die Regierungsbehörden mit roter Tinte das Wort „mousawi“ (mosaisch = Jude) in die Pässe von Bürgern hebräischer Abstammung. Der Zugang zu bestimmten Geschäftsfeldern und Studiengängen wie Medizin und Pharmakologie wurde ihnen verwehrt.

Aber auch der neu gegründete Staat Israel versuchte auf seine Weise Kapital aus dem Schicksal der syrischen Juden zu schlagen. Friedman diagnostiziert eine besondere Begehrlichkeit staatlicher Stellen in Bezug auf antike Handschriften und schlimmer noch: dass einige dieser Handschriften unauffindbar verschwanden, während sie sich in staatlicher Obhut befanden. Auch vom Aleppo Codex fehlt heute mehr als ein Drittel aller Seiten, und Friedmans Recherchen legen nahe, dass dies nichts mit den Ereignissen von Aleppo im Jahre 1947 zu tun hat.

Ein international agierender Kunsthänder scheint hier mehr zu wissen, fordert allerdings horrende Summen für seine Auskünfte. Und ein orthodoxer Rabbiner, der als ausgewiesener Experte für antike hebräische Schriften galt, wurde tot in einem Hotelzimmer aufgefunden. Über manche Zusammenhänge kann der Autor am Ende nur spekulieren.

Für mich als deutschen Leser ist die Detektivgeschichte um die verlorenen Teile des Codex am Ende nebensächlich. Wichtiger ist, das nach dem Lesen des Buches ein tieferes Verständnis für die Geschichte des Staates Israel wie auch für die vielfältigen Ursachen des Nahostkonfliktes bliebt.

 

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Das Buch ist erschienen im Herder Verlag, 2012, gebundene Ausgabe: 11,99 Euro.

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